Verehrte Mülheimer,
Sehr geehrte Damen und Herren,
und natürlich liebe Dea,
ich freue mich, daß ich heute Dich preisen darf, als Deine erste Leserin oder Zuschauerin, stellvertretend für das große Publikum!
Seit Dezember 1991, seitdem ich die Theaterstücke von Dea Loher lese, kehrt ein Thema in ihrem Werk immer wieder, nämlich die Frage nach der persönlichen Verantwortung des Einzelnen in unserer Gesellschaft. Der aufklärerische Impuls, der mit dieser Fragestellung einhergeht, ist immer auch eine Aufforderung an das Publikum. Seit damals sind 23 Theatertexte sowie ein Band mit Erzählungen entstanden, wurde dieses inzwischen umfangreiche Werk mit einem Dutzend Preise gewürdigt. Aber heute erhält Dea Loher für ihr Theaterstück DIEBE, für ihre Geschichten von zwölf Figuren mitten aus unserer Gesellschaft, das erste Mal einem Publikumspreis. Endlich – möchte ich sagen - sind Dea Loher, ihre Figuren und ihr Publikum zusammengekommen. Verzeihen Sie mir also, wenn ich Ihnen, die Dea Lohers DIEBE ja ausgewählt haben, die Figuren nun noch einmal kurz vor Augen führe.
„Menschen wie ich, die leben, als lebten sie nicht. Die sich durch ihr eigenes Leben hindurchstehlen, vorsichtig und scheu, als ob ihnen nichts davon gehören würde, als ob sie kein Recht hätten sich darin aufzuhalten. - Als ob wir Diebe wären.“ sagt Ira Davidoff. Ira hat 43 Jahre lang in einem Hotelzimmer vergeblich darauf gewartet, daß ihr Mann doch gleich wieder zurückkommt, und fragt sich nun, ob sie ihre Zeit nicht vergeudet hat.
Dea Loher zeigt uns in ihrem jüngsten Theaterstück Menschen, die aus dem Zusammenhang gefallen sind, aus dem familiären wie beruflichen, deren Welt aus den Fugen geraten ist. Rainer Machatschek, der Single, der selbst nicht weiß, wohin er gehört, was er eigentlich von Gaby will, erzählt, daß sein Freund Finn ihm erzählt habe: „Ja, sagt er, ein Tomason, das is n Ding, wo keiner weiß, was er für ne Bedeutung hat. Also früher mal, ja ganz früher mal, so längs auf ner Zeitachse zurückgedacht, wohin sich keiner mehr so recht erinnern kann, (…) da gabs ne Verwendung. Für den Tomason, für das Ding. Irgendjemand hat ihn sich ausgedacht, weil er ihn für einen bestimmten Zweck gebraucht hat. Is aber verloren gegangen. Der Zweck. Oder das ganze Teil is so zerbrochen, von dem ganzen is was abgefallen, rausgesprungen, weggeschnitten worden, Unfall, Zufall, alles möglich, jetzt is son Rest übrig.“
Als so eine Übrig-Gebliebene, als so ein Rest fühlt sich auch die junge Mira. Sie erwartet ein Kind von dem viel älteren Joseph Erbarmen. Aber da sie nicht weiß, wer ihr Vater ist, fühlt sie sich unfähig, eine Familie zu gründen. Deshalb macht Joseph, von Beruf Bestatter, sich auf, ihren unbekannten Vater, den anonymen Samenspender, zu suchen.
Er findet das Ehepaar Schmitt, das sich eingeigelt hat und keinen Eindringling in seine Welt einlassen will, das glaubt, von einem wilden Tier beobachtet und belauert zu werden. Als schließlich Joseph Herrn Schmitt als den anonymen Samenspender identifiziert und damit konfrontiert, ermorden die beiden Joseph aus Angst vor der Erwartung, Verantwortung übernehmen zu sollen, vor der Eventualität einer zwischenmenschlichen Beziehung. Und Mira bleibt übrig mit ihrem Kind ohne Vater.
Dann gibt es eine junge Familie Tomason. Monika Tomason, Filialleiterin in einem Supermarkt, hat Angst vor der Kündigung. Sie will alles immer noch besser machen, vorausschauend holt sie abends am PC das Abitur nach, vorauseilend lernt sie eine Fremdsprache und bewirkt doch genau damit nur die Spaltung der Familie und kann die Kündigung auch nicht verhindern.
Und dann ist da ist die Familie von eben diesem Finn, auch eine Familie Tomason, aber eine Generation älter. Erwin, der alte Vater, ist ins Altersheim abgeschoben und wartet sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen seines Sohnes. Dieser, Finn, hat schon lange erst den Beruf und dann auch alle Kontakte zur Familie und zu Freunden aufgegeben, er ist dabei, sich ganz aus seinem Leben hinauszustehlen. Linda, die Tochter Erwins, rechnet mit ihrer Kündigung und sitzt alleine in ihrer Küche und phantasiert sich eine Familie zusammen. Sie träumt von einem Wildpark, von einem Ort, wo die Natur noch die Ordnung bestimmt und von Tieren, die nicht alleine sondern im Rudel leben. Erwin Tomason war früher Versicherungsagent, er war spezialisiert auf Versicherungen gegen höhere Gewalt. Sein ganzer Stolz ist, daß es ihm fast immer gelang nachzuweisen, daß es sich bei den Schadensfällen eben doch nicht um höhere Gewalt handelte sondern um menschliches Versagen. Erst jetzt im Altersheim, wohin sich keine Buslinie mehr rentiert, wo er von seinem Sohn kein Lebenszeichen mehr bekommt, und seine Tochter ihm den Selbstmord seines Sohnes verschweigt, erst jetzt hofft er zum ersten Mal inständig, daß er ein Opfer höherer Gewalt geworden ist und nicht menschlichen Versagens. Denn dann, dann stellte sich ja die Frage, ob nicht auch er versagt habe, ob nicht auch er verantwortlich sei.
Dea Loher führt uns in eine Landschaft mit lauter Findlingen. Doch das Schicksal dieser vereinzelt Verlorenen ist kunstvoll verwoben, zwar nicht erkennbar für die einzelnen Figuren - aber für uns Zuschauer. Einerseits bekommen wir eine Fülle kleiner in sich abgeschlossener Geschichten, andrerseits erhalten wir ein unter der Oberfläche verschlungenes Muster von Beziehungen und spinnwebfeinen Zusammenhängen. Während das Lebensgefühl der Figuren Dea Lohers von einer schicksalshaft erlebten Verlorenheit geprägt wird, stellt sich für uns Zuschauer die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen für seine Einsamkeit, gerade aufgrund des Aufscheinens von Verbindungslinien, durch die Möglichkeit des Gewahrwerdens von Beziehungen. Hier in diesem Widerspruch zwischen subjektiv erlebter Situation und objektiv möglichem Handlungsspielraum liegt auch der Grund für die Komik der Figuren, für die Heiterkeit bei aller Trostlosigkeit. Dabei denunziert Dea Loher ihre Figuren nie. Ihre Kunst besteht darin, daß sie – wie Schiller es fordert - „die Würde der Person in seiner tragischen Verfaßtheit“ bewahrt. Ja, Dea Lohers Figuren erhalten ihre Würde gerade auch in ihrem Verlorensein. Aber weil ihre Tomasons nicht nur einem blinden Schicksal ausgeliefert sind, weil sie – wenn auch nur ganz unbestimmt im hintersten Winkel ihres Bewußtseins um ihre Eigenverantwortlichkeit wissen, machen sich die Figuren uns Zuschauern angreifbar und begreifbar, können wir sie verstehen, über sie lachen und weinen, über sie nachdenken. Die Schönheit des Textes entsteht in dem Zusammenspiel von Beschreibung eines Zustandes und der ihr innewohnenden Aufforderung zum Denken. So kann der Zuschauer etwas mit nach Hause nehmen, denn Dea Lohers Texte sind Stücke für Hirn und Herz.
Das Publikum in Mülheim hat genau das erkannt und ihr den diesjährigen Publikumspreis zugesprochen. Ich gratuliere.
Marion Victor, 27. Juni 2010
[schließen]
Bookmarken bei
Facebook
Twitter
Google
Mister Wong
VZ Netzwerke
del.icio.us