Ssinter Mätes Vögelsche: Mülheimer Martinslied
Im November 1932 starb Rektor Wilhelm Klewer, nur wenige Tage vor dem Martinsabend. Er hatte noch bis kurz vor seinem Tode an einem Manuskript gearbeitet, in dem er seinem "Plattdütschen Kringk" seine Forschungen zum Mülheimer Martinslied mitteilen wollte. Die "Mülheimer Zeitung" druckte es am 10.11.1932 in großen Teilen ab und schloss mit den Worten:
"So wiet ge-iht dat Manuskript van dän verstorvene laste Präsident vam Plattdütsche Krink, Wilhelm Klewer. Di Schlußwöd heet he ni meahr schriewe künne, dän lieven Herrgodd hett üm do dän Ble-istif ut der Haund genome. Die leste sidd üs all koum meahr te lese."
Bereits 1909 hatte Klewer in der Festschrift zur rheinischen Lehrertagung in Mülheim unter dem Titel "Aus dem Kinderleben" alte Reime, Rätsel und Sprüche vorgestellt. Dabei ging es ihm vorrangig darum, Brauchtum durch Wiederbelebung zu erhalten. Er gestaltete persönlich das jährliche Chrubbel-Chrabbel der Bürgergesellschaft Mausefalle, bei der die Kinder beschert werden, und er gründete am 28.10.1930 den "Plattdütschen Kringk" in Sorge um die Erhaltung der heimischen Mundart.
Als nicht gebürtiger Mülheimer lernte ich das Vögelsche-Lied erst aus den VHS-Blättern des Mölmsch-Platt-Kreises kennen, die Ernst Buchloh in den 70er Jahren zusammengestellt und bearbeitet hatte. Er übernahm darin Klewers Deutungsversuche in der zentralen Frage: "Wän üs dat Sinter Mätes Vügelsche?" Lange Zeit glaubte ich, der im Zusammenhang mit der Martinslegende etwas dubiose Vogel sei eine typisch Mülheimer Schlitzohrigkeit. War ich doch von Bonn her schon einiges gewöhnt, wo der heilige Martin im Schnörz-Lied den Kindern allen eine Kerze schenkt und sie auch noch persönlich anzündet. Und bedauert habe ich die Mülheimer Kinder, die wohl mindestens die doppelte Anzahl von Zeilen zu singen hatten, ehe sie die ersehnten Gaben endlich in Empfang nehmen durften. Dabei schienen mir die Textteile von dramaturgischer Wichtigkeit und Folgerichtigkeit zu sein.
Bis ich zufällig beim Blättern in "Des Knaben Wunderhorn"(von Arnim und Brentano 1806/1808) auf zwei Texte aus Holstein und dem Rheinland stieß. Da heißt es " Droben in der Hausfirst hängen die langen Mettwürst, gebt uns von den langen, lasst die kurzen hangen" und "droben in der First hängen die Bratwürst, gebt uns die langen, lasst die kurzen hangen, ri-ra-rum, der Winter ist herum." Der eine Text bezieht sich auf einen Sommerbrauch, der andere auf Fastnacht. Enthielt der Mülheimer Text Teile, die auch anderswo gesungen wurden und das eventuell gar nicht nur zu St.Martin, sondern an verschiedenen Brauchtumstagen im Jahr? Kein Zweifel jedenfalls, dass zumindest diese Zeilen keine Erfindung der Mülheimer waren. Verhielt es sich mit dem "Vögelsche" womöglich ähnlich?
Klewer schreibt zwar, dass die Duisburger statt "Kapögelsche" "Kögelsche" singen, aber er erweckt den Eindruck, als sehe er darin nur eine Verfälschung des Mülheimer Originals. Fragen an alte Mülheimer brachten leider auch keine weiteren Erkenntnisse zur überregionalen Verbreitung. Das Institut "Deutsches Volksliedarchiv" in Freiburg hatte mir bei der Beschaffung der Originalmelodien zu Mülheimer Bürgerliedtexten (siehe den Beitrag "Us Mölm, dat wille we-i lowe" im Mülheimer Jahrbuch 2002) unschätzbare Dienste geleistet. Ihm teilte ich meinen Verdacht mit.
Und in der Tat, nicht nur ein Vögelchen kam geflogen: "Hei, Sünder Mertens vöügelchen" aus Niedersachsen, "Sünte Martins Vögelken" und "Sünnematten Flüggelken" aus Westfalen, "Matten, Matten, Kögeling" aus der Altmark und "Kipp, Kapp, Kögel, Sünter Martens Vögel" aus Ostfriesland waren nur einige der überwiegend rot gekleideten Schar. Heinrich Sints hatte sie bereits 1968 am Institut gesammelt und ausgewertet.
Wir wissen nicht genau, welches wissenschaftliche Material dem Rektor Klewer vorlag. Er selbst erwähnt nur den geschichtlichen Atlas von Professor Aubin aus Bonn, über die Verbreitung des Martinsfeuers. Doch bereits 1910 hatte Wilhelm Jürgensen eine eigenwillige aber systematische Untersuchung von Matinsliedern vorgelegt. 1931 schrieb Hans Wagner eine Dissertation zu dem Thema und gab sie 1933, ein Jahr nach Klewers Tod, als Buch heraus.
Darin ist der Mülheimer Text vollständig abgedruckt. Und wie vermutet gibt es hier für alle 8 Teile Belege von Holland bis Westfalen, von Ostfriesland bis in die Eifel. Nun gut. Aber wer ist denn nun, um an Klewers zentrale Frage zu erinnern, das "Sinter Mätes Vügelsche"?
Was hat der Martinsvogel mit dem roten Käppchen oder Krägelchen oder Röckchen oder Flügelchen denn nun mit dem heiligen Martin zu tun? Als in Legenden und im Brauchtum verbürgtes Federvieh bietet sich sinnvoll nur die Gans an. Aber die schließt Klewer zu Recht aus. Sie hat weder ein Käppchen noch ein Krägelchen. Ihm ist auch klar, dass die Wurzeln dieser Zeilen in die Zeit vor der Christianisierung zurückreichen. Obwohl er keinen passenden Vogel aus der germanischen Mythologie findet, will er die Frage nicht offen lassen. Es gebe einen Vogel, der den Namen Martinsvogel trage, die Kornweihe, die in der Abenddämmerung ausfliege, wenn die Kinder vor den Haustüren singen.
Der Greifvogel habe im Nacken ein Kränzchen rotbrauner Federn. Dies sei das "roat Kapügelsche". - Natürlich widerspricht er sich hier selbst. Aber in Mülheim ist diese Deutung bis heute in den Köpfen geblieben. Meines Wissens gibt es keinen zweiten Brauchtumsforscher, der diese These unterstützt. Denn schon ein flüchtiger Blick auf die Bilder überzeugt jeden, dass wohl eher der Schwarzspecht als die Kornweihe gemeint sein könnte. Laut Wagner wird am Niederrhein unter Martinsvögelschen in der Tat der rothaubige Schwarzspecht verstanden, in anderen Gegenden lässt sich kein bestimmter Vogel zuordnen. Deshalb vertrat Jürgensen die Ansicht, es könne sich dabei vielleicht um eine Erscheinungsform des heiligen Martin handeln. "Ganz abgesehen davon, dass diese Erklärung für das volkstümliche Denken viel zu abstrakt ist, erscheint auch die Beweisführung bei Jürgensen wenig einleuchtend. Gehen wir lieber von der Angabe aus, dass unter dem Martinsvögelschen der rothaubige Schwarzspecht zu verstehen sei! Wir wissen, dass dieser Vogel (Picus Martius Fernoniusque) bei den Sabinern und Italern als Blitzträger galt."(Wagnerzitat) Auch im germanischen Volksglauben erscheint der Schwarzspecht als Blitzträger und Feuerbringer. Daraus ist zu ersehen, was das "Vögelsche" mit dem heiligen Martin ursprünglich zu tun hat. Nichts! Erst über das Brauchtumsfeuer mag auch der symbolische Vogel zum Martinsvogel geworden sein. Im übrigen gehört unser Lied zu den uralten Heischeliedern (heischen = fragen, fordern), mit denen die Kinder zu verschiedenen Jahreszeiten ihren Teil erbettelten. "Mätes", in Vermischung aber nicht deckungsgleich mit dem germanischen Erntedank, ist da nur ein Anlass unter vielen.
Auch die Melodie ist seit alters her funktional auf dieses eine Ziel des Forderns ausgerichtet. Sie bewegt sich in einfachstem, drei- bis fünftönigem Raum. Es dominiert der Sprechgesang auf einer einzigen Tonhöhe. Wer also das Mülheimer Lied wegen seiner litaneihaften Melodie kritisiert und musikalisch aufmotzen möchte - zu denen gehörte zugegebenermaßen auch ich -, muss lernen, dass die Heische- oder Ansingelieder nicht als musikalischer Genuß gedacht waren, sondern als ebenso "kinderleichte" (man wird oft an "Hoppe-hoppe-Reiter" erinnert) wie lautstarke Demonstration eines Anliegens. Die auch im überregionale Vergleich auffällige Länge des Mülheimer Textes erscheint mir unter diesem Gesichtspunkt heute ebenfalls kalkuliert: Wer wollte die Kindern, die dieses Lied zu Ende gesungen hatten, nicht reichlich mit Gaben bedenken?
Text und Melodie, auch das lernt man erst allmählich bei der Beschäftigung mit den Volksbräuchen, sind hier stets nur Momentaufnahmen einer fließenden Entwicklung an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, von einem subjektiv empfindenden Autor mit unzureichenden Mitteln fixiert. Die abgedruckte Notenfassung schließt sich einerseits an die älteste übermittelte Mülheimer Handschrift an, zeigt andererseits ein paar Achtelfüllungen für den sich verändernden Text, in dem an einigen Stellen gerne "se" (se pack, se sall) eingefügt wird. Aber auch diese angepasste Fassung muss nicht genau dem entsprechen, was die Kinder wirklich sangen und singen. Volkslieder wurden über Jahrhunderte mündlich weitergegeben. Es gibt folglich kein Original, keine richtige und keine falsche Fassung; es sind alles nur Versionen eines Elementes der lebendigen Brauchtumsgestaltung.
Den Text unter den Noten haben wir in einer Schreibweise abgedruckt, wie sie erst in unserer Gegenwart als dem tatsächlichen Sprachklang gemäßer verwendet wird. Auch auf diesem Gebiet gibt es nichts Verbindliches. So ist der Text bewußt in zwei Fassungen wiedergegeben, die sich nur geringfügig im Wortbestand aber deutlich in der Darstellung des Mölmsch durch hochdeutsche Buchstabenlaute unterscheiden. Die vom Mölmsch-Platt-Kreis gelehrte Dokumenta ist die einzig exakte "Lautschrift" von Mundart mit normalen Buchstaben, kommt aber nicht ganz ohne Sonderzeichen aus. Für den allgemeinen Gebrauch wird sie als zu kompliziert empfunden.
Wie das mündliche Tradieren zu Veränderungen führt, kann man schon innerhalb der Grenzen Mülheims verfolgen. Die Zeilen "Hie van do noo Äässe, hoaln en fettem Blässe, hie vöar, do föar, vöar de riieke Koupmannsdöar" und "teegent Joor wiier wat" werden von vielen Saarnern nicht gesungen. Während das Weglassen im ersten Fall musikalisch nicht weiter auffällt, macht sich die Auslassung der zweiten Stelle als Abschneiden einer Melodiephrase bemerkbar, was aber niemanden hindert, es zu tun, weil es in der Schule oder zu Hause zu einer bestimmten Zeit so weitergegeben wurde. Die Saarner seien nie zum Viehmarkt nach Essen gegangen, um eine fette Kuh zu kaufen, hört man als Grund für die den Kindern sicher willkommene Kürzung. Aber vielleicht war es auch einfach nur Vergesslichkeit? Denn das wäre auch funktionierende Tradition: es fällt etwas weg, es kommt etwas hinzu usw.
Fazit:
"Ssinter Mätes Vögelsche", das Mülheimer Martinslied, das wurde klar, ist kein Mülheimer Eigengewächs. Der Text spiegelt keine Dramaturgie des "Chrubbel-Chrabbel", sondern stellt eine historische gewachsene Reihung von Textteilen dar, die weit verbreitet sind.
Es ist durchaus denkbar, dass das Bettelliedchen von Holland zu uns kam. In rein katholischen Gegenden dagegen scheinen die ersten Zeilen, die sich auf das Vögelchen beziehen, ausgestorben zu sein. Diese Einbettung in eine Historie des Volksbrauches, die bis in die Germanenzeit hineinreicht und an der wir durch unsere Mülheimer Version teilnehmen, macht es erst recht zu einem kostbaren kulturellen Erbe. Es nimmt uns aber auch in die Pflicht, die Tradition fortzusetzen. Und damit steht es nicht gerade zum Besten.
Ein Menschenalter nach Rektor Klewer drohen seine Bemühungen unwirksam zu werden. Das Chrubbel-Chrabbel, das die Bürgergesellschaft "Mausefalle" dankenswerterweise immer noch veranstaltet, reicht alleine nicht mehr aus. Dort muss das Lied bereits den Kindern und Eltern vorgesungen werden, die derweil stumm auf die Bonbons warten.
Der Mölmsch-Platt-Stammtisch "Aul Ssaan" besuchte 2001 alle Saarner Grundschulen, erläuterte in den Klassen den Text und sang ihn mit Schülern und Lehrern. Man hatte höfliches Interesse erwartet, man erlebte aber überall Begeisterung. "Mölmsch in der Schule" macht offenbar Spaß!
Stand: 02.11.2017
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